Erneut keine Mehrheit für eine Einstufung
Der Fall Titandioxid hält die Branche weiter in Atem. Auch eine Sondersitzung des zuständigen REACH-Regelungsausschusses am 7. März brachte keine Lösung in dem Einstufungs-Krimi. Die Europäische Kommission erntete erneut heftige Kritik einer ganzen Reihe von Mitgliedstaaten für ihren im Dezember 2018 vorgelegten Vorschlag einer Einstufung von Titandioxid sowie titandioxidhaltiger Gemische in Pulverform. Während einigen Mitgliedstaaten, darunter Frankreich, der Vorschlag nicht weit genug geht, sehen andere, darunter Deutschland, dieses Verfahren generell als den falschen Weg an. Daher hat die Kommission die Abstimmung über das gesamte Einstufungs-Paket (14. ATP) verschoben. Dem Vernehmen nach war die Generaldirektion Umwelt nicht bereit, Titandioxid aus dem Vorschlagspaket herauszunehmen und über den Rest abstimmen zu lassen. Damit hält die Kommission den Druck aufrecht.
Wie zu erfahren war, wird sich die nach den Europawahlen neu zu bildende Kommission frühestens im Herbst damit beschäftigen, ob sie die Einstufung von Titandioxid weiter verfolgt. Die anstehende „Lissabonisierung“ des Verfahrens wird dabei ihre Entscheidungsbefugnisse deutlich vergrößern: In dem ab Herbst für Einstufungen unter der CLP-Verordnung geltenden Verfahren der „delegierten Rechtsakte“ braucht die Kommission nicht mehr die Zustimmung der Mitgliedstaaten im Ausschuss, sondern kann grundsätzlich allein entscheiden. Die Staaten haben nur noch die Möglichkeit, den Vorschlag im Rat mit qualifizierter Mehrheit abzulehnen. Das setzt voraus, dass mindestens 16 Mitgliedstaaten, die 65% oder mehr der EU-Bevölkerung vertreten, dem Vorschlag widersprechen. Eine sehr hohe Hürde.
Allerdings bietet das neue Verfahren der Kommission auch die Möglichkeit, im Sinne der „Agenda für eine bessere Rechtsetzung“ zu einer umfassenden Analyse der Folgen zu kommen. Die Junker-Kommission hatte sich 2016 in einem “Interinstitutional Agreement on Better Law-Making” dazu verpflichtet, vor delegierten Rechtsakten die wirtschaftlichen und sozialen Folgen abzuschätzen, wenn diese signifikante Auswirkungen hätten. Dass die Auswirkungen einer Einstufung von Titandioxid signifikant wären, sollte spätestens nach der jüngsten öffentlichen Konsultation klar geworden sein, an der sich knapp 500 Unternehmen, Verbände, Institutionen und Einzelpersonen beteiligten. Über 95 % der Eingaben kritisierten dabei eine Einstufung von Titandioxid als ungeeignet und unverhältnismäßig. Außerdem hatte eine Reihe von Ländern außerhalb der EU die Notifizierung im Rahmen der WTO genutzt, um den Vorschlag als Handelshemmnis zu kritisieren und vor einer Schwächung des internationalen GHS-Systems zu warnen.
Durch die Verschiebung der Entscheidung hat die Kommission zudem Zeit gewonnen, juristisch klären zu lassen, ob CLP überhaupt eine Einstufung aufgrund allgemeiner, nicht stoffspezifischer Partikeleffekte erlaubt. Juristen hatten diesbezüglich erhebliche Zweifel geäußert. Eine solche rechtliche Klärung ist auch erforderlich. Denn der Kommissions-Vorschlag bildet einen Präzedenzfall, der Auswirkung auf die Behandlung sämtlicher pulverförmiger Stoffe unter CLP hätte.
In der Zwischenzeit gehen die Arbeiten an der europäischen Harmonisierung der Staubgrenzwerte am Arbeitsplatz weiter. Insbesondere Deutschland hatte sich für eine solche Angleichung der Arbeitsschutz-Vorschriften als Alternative zur Einstufung ausgesprochen. Zwar haben fast alle EU-Mitgliedstaaten Grenzwerte für Staubemissionen am Arbeitsplatz eingeführt, diese variieren jedoch zum Teil erheblich. So muss beispielsweise ein deutscher Farbenhersteller viermal strengere Staubgrenzwerte einhalten, als sein französischer Wettbewerber. In einem Binnenmarkt, der gleiche Wettbewerbsbedingungen für die Marktteilnehmer sicherstellen soll, ist dies auf mittlere Frist gesehen nicht akzeptabel.
Die Kommission in Gestalt der „Generaldirektion Arbeit“ hat eine Expertengruppe beauftragt, Vorschläge für eine Angleichung der Staubgrenzwerte am Arbeitsplatz zu erarbeiten. Eine Liste der prioritären Substanzen enthält auch den Stoff Titandioxid. Die Entscheidung über künftige Grenzwerte trifft der Risikobewertungsausschuss (RAC) der Europäischen Chemikalienagentur. Wegen der Komplexität und der erheblichen wirtschaftlichen Auswirkungen wird frühestens Anfang 2020 mit einer Angleichung der Arbeitsschutzstandards gerechnet.