Bei "Fridays for Future" oder dem "March for Science" wird die Politik eindringlich aufgefordert, die Erkenntnisse der Wissenschaft zu berücksichtigen. Bei der Chemikaliengesetzgebung ist ein anderer Trend zu beobachten, der aktuell bei der EU-Chemikalienstrategie besonders deutlich wird: Hier sieht sich die Politik unter dem Druck von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und Medien oft genötigt, Maßnahmen voranzutreiben, die eine wissenschaftliche Basis vermissen lassen.
Mit Slogans wie „Unite behind the Science!“ versuchen Klimaaktivisten und-aktivistinnen, das Bewusstsein für den Klimawandel zu schärfen und Regierungen zum Handeln zu bewegen. Ganz ähnliche Aufrufe wurden während der Covid-Pandemie laut, mit denen Öffentlichkeit und Politik auf die Empfehlungen der Virologen aufmerksam gemacht werden sollten. Natürlich wird die Forderung, der Wissenschaft zu folgen, manchmal mit einer Absolutheit vorgetragen, die der Komplexität der Probleme nicht gerecht wird und auch vielen Wissenschaftlern Unbehagen bereitet. Die meisten Probleme in modernen Gesellschaften haben einen mehrdimensionalen Charakter.
Um Lösungen zu finden, müssen daher verschiedene Perspektiven und wissenschaftliche Disziplinen einbezogen werden, die dabei zu unterschiedlichen Auffassungen kommen können, ohne dass zwingend eine wahr ist, und die anderen falsch sind. Wenn man sich jedoch dieser Komplexität bewusst ist und den mehrdimensionalen Charakter der meisten Probleme akzeptiert sowie die Grenzen von wissenschaftlichen Modellen und Erkenntnissen berücksichtigt, dann ist die Forderung, der Wissenschaft zu folgen, eine sinnvolle Devise: Im besten Fall bedeutet das, alle verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse im politischen Prozess zu berücksichtigen, ohne dabei Fakten außer Acht zu lassen, die nicht ins eigene Weltbild passen.
Die Chemikalienstrategie ist keine rein wissenschaftsbasierte Politik
Interessanterweise findet man Rufe nach einer wissenschaftsbasierten Chemikaliengesetzgebung fast nur seitens der Industrie. Vielmehr werden in diesem Bereich meist Forderungen nach pauschalen Verboten laut.
Die Industrie mag die Metapher vom Löwen im Käfig und in der Savanne noch so oft in Infografiken darlegen; sobald ein gefährlicher Stoff gefunden wurde, läuft die Skandalisierung durch NGOs und Medien auf Hochtouren – unabhängig davon, ob tatsächlich ein Risiko besteht. Mit dem Slogan „Gefährliche Stoffe haben in Endprodukten nichts verloren“ lässt sich Politik machen, da er eingängig und scheinbar auch selbstverständlich ist. Dass damit die wissenschaftsbasierte Risikobewertung einfach übergangen und seit Paracelsus bekannte (und somit fast 500 Jahre alte) wissenschaftliche Erkenntnisse ignoriert werden, stört dabei nicht.
Leider ist auch die neue EU-Chemikalienstrategie für Nachhaltigkeit (CSS) in einem ähnlichen Geist geschrieben. Unabhängig davon, was man von den einzelnen Maßnahmen inhaltlich halten mag, kommt in dieser Strategie eine gewisse chemiefeindliche Grundhaltung zum Ausdruck. Das mag viele NGOs erfreuen, macht es aber für Chemiker und Chemikerinnen schwierig, diese Strategie zu lesen, ohne sich in der Berufsehre angegriffen zu fühlen.
Wird die Politik der Wissenschaft folgen?
Natürlich ist nicht alles an der Chemikalienstrategie schlecht. Aber viele der geplanten Maßnahmen würden die Chemikaliengesetzgebung vom wissenschaftsbasierten Konzept der Risikobewertung wegführen, hin zu einer Richtung pauschaler gefahrenbasierter Verbote. Das wäre im Einklang mit den Forderungen vieler NGOs. Ein Beispiel ist die Ausweitung des „allgemeinen Konzepts für das Risikomanagement“.
Unwissenschaftliche Maßnahmen werden jedoch nicht zu einem höheren Verbraucherschutzniveau führen und bergen das Risiko, dass die Chemie ihren wichtigen Beitrag zur Erfüllung der Green-Deal-Ziele nicht mehr wie erforderlich leisten kann. Inzwischen mehren sich die Stimmen aus der Wissenschaft, die auf die Defizite der Chemikalienstrategie hinweisen. Eine Reihe von Publikationen namhafter Wissenschaftler aus Universitäten, Bundesbehörden, Forschungseinrichtungen und der Deutschen Gesellschaft für Toxikologie zeigen deutlich auf, an welchen Punkten die CSS den Boden der Wissenschaft verlässt (s. u.).
Natürlich gilt auch in der Chemikalienpolitik, dass im politischen Prozess nicht nur die Wissenschaft (hier insbesondere die Toxikologie) eine Rolle spielt. Es dürfte jedoch konsensfähig sein, dass die Kritikpunkte der Wissenschaftler Berücksichtigung finden sollten. Bisher sieht es jedoch nicht so aus, als würde die EU-Kommission von ihren Plänen abrücken. Es bleibt daher zu wünschen, und Ziel der Arbeit des VdL und seiner Partner, dass der Slogan „Unite behind the science“ auch bei der Chemikalienstrategie zur Devise wird.
Wissenschaftliche Veröffentlichungen zur Chemikalienstrategie
- Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Toxikologie
- Veröffentlichung von Wissenschaftlern des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR): The "EU chemicals strategy for sustainability" questions regulatory toxicology as we know it: is it all rooted in sound scientific evidence?
- The EU chemicals strategy for sustainability: in support of the BfR position
- The EU chemicals strategy for sustainability: critical reflections on proposed regulatory changes for endocrine disruptors and mixture toxicity