Lacke & Farben aktuell

Wie KI in FORSCHUNG & ENTWICKLUNG funktionieren kann

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Künstliche Intelligenz (KI) wird auch unsere Branche verändern. Um zu verstehen, welche Entwicklungen im Bereich KI und Maschinelles Lernen bereits heute in der Lack- und Druckfarbenindustrie angestoßen werden, welche Chancen dies bietet, wohin die Entwicklung gehen könnte und wo die Grenzen von KI liegen, beleuchtet unsere Serie viele Aspekte des umfassenden Themas.

Künstliche Intelligenz (KI) bzw. maschinelles Lernen wird zu gravierenden Veränderungen in Unternehmen, im Arbeitsleben und allen gesellschaftlichen Bereichen führen, heißt es in den Medien. Versucht man jedoch zu verstehen, was sich hinter diesen Thesen verbirgt und wie diese Veränderungen konkret aussehen können, bleibt vieles vage, manches rätselhaft. Häufig entsteht der Eindruck, dass man schon bald eine Art Software nutzen kann, die – ähnlich wie das oft erwähnte Sprachmodell ChatGPT – auf alle Fragen eine passende Antwort liefert. So heißt es, dass KI insbesondere in der Lack- und Druckfarbenindustrie die Produktentwicklung vereinfacht und beschleunigt und dabei unterstützen kann, innovative und nachhaltige Rezepturen zu entwickeln. Aber was heißt das genau, und wie soll das funktionieren? Was muss ein Unternehmen tun, um in den Genuss dieser offenbar wunder baren Zukunftsvision zu gelangen?

KI WIRD DIE BRANCHE VERÄNDERN

Die Branche steht, was die Nutzungsmöglichkeiten von KI anbelangt, noch ganz am Anfang. Und dennoch sind sich die Experten sicher, dass der Einsatz von KI angesichts bestehender und kommen der Herausforderungen für viele, insbesondere kleine und mittlere Unternehmen (KMU) der Schlüssel sein wird, um überhaupt auf dem Markt bestehen zu können. Die Implementierung von KI selbst ist nach Einschätzung von Fachleuten zudem ein disruptiver Schritt, der das Selbstverständnis von Unternehmensführung und die Abläufe insbesondere im sensiblen Bereich Forschung & Entwicklung tiefgreifend verändern wird.

„Angesichts beispielsweise des Green Deals der Europäischen Union und der anstehenden Regulierungen aus Brüssel in Bezug auf die Verwendung von Chemikalien ist ein Abwarten oder Weggucken nicht mehr möglich“, weiß Professor Dr. Jost Göttert, Leiter des HIT Instituts für Oberflächentechnik der Hochschule Niederrhein in Krefeld. „Die gesamte Branche muss dynamisch und zukunftsorientiert handeln. Insbesondere wird von der Unternehmensführung Beweglichkeit gefordert und die Bereitschaft, neue Chancen zu erkennen, zu nutzen oder – so muss man es leider sagen – unterzugehen. Dies betrifft im Übrigen nicht nur die Lack und Druckfarbenindustrie, sondern den Standort Deutschland insgesamt.“

 

„MEINE REZEPTUR, MEIN WISSEN, MEIN MARKT“

Effizienz, Anpassungsfähigkeit und Schnelligkeit: So lautet das Versprechen beim Einsatz Künstlicher Intelligenz. „Doch was machen Unternehmen, wenn es morgen aus Brüssel heißt, dass dieses oder jenes Lösemittel nicht mehr verwendet werden darf?“, fragt Professor Dr. Christoph Quix, Experte für Elektrotechnik und Informatik an der HS Niederrhein. „Das wird insbesondere manche KMU überfordern, weil die Suche nach einem gleichwertigen umweltverträglichen Ersatz bei gleichbleibenden Eigenschaften des Beschichtungsstoffes die Ressourcen und Fähigkeiten des Unternehmens übersteigen wird. Ohne den Einsatz von KI ist hier eine schnelle Lösung nicht denkbar“, so Quix. An dieser Stelle tut sich ein weiterer Abgrund auf. Denn noch fehlt aus vielen Bereichen der Chemie- und Lackindustrie ausreichend Datenfutter für die Entwicklung eines Modells, mit dem eine KI in die Lage versetzt werden kann, entsprechende Lösungen zu finden. „So gibt es beispielsweise kaum verfügbare Daten zu alternativen Lösemitteln,“ weiß Professor Dr. Christian Schmitz, der als Experte für Lack und Oberflächenchemie der HS Niederrhein mit dem HIT-Institut zusammen arbeitet. „Unternehmen betrachten Daten ihrer Rezepturen als Geschäftsgeheimnis und geben sie nur sehr ungern preis. Denn für viele gilt immer noch der Satz: Meine Rezeptur, mein Wissen, mein Markt.“

Entscheidend für die Entwicklung eines KI-Modells ist neben den reinen Daten vor allem das Wissen darum, wie diese Daten strukturiert werden müssen, mit welchen Daten das Neuronale Netzgefüttert wird, und wie es lernen beziehungsweise sich verbessern kann, um die Produktentwicklung sinnvoll zu unterstützen.

„Die Basis dafür sind gute, zuverlässige Daten und Automationslösungen“, so Göttert. „Das Data Warehouse spielt ebenfalls eine entscheidende Rolle. Es muss in strukturierter Form auf diese Daten zugegriffen werden können, um digitale Modelle anzulernen und weiterzuentwickeln. Es wird keine universelle Lösung für alles geben, sondern nur Modelle für konkrete chemische Formulierungsaufgaben. Dann kann es quasi als digitaler Experte, wie auch der menschliche Lackexperte, diese Chemie genau verstehen und bearbeiten.“ Im Gegensatz zum Sprachmodell ChatGPT, das mit Milliarden Datensätzen aus dem Internet trainieren konnte, betreten die Experten für die Lackindustrie hier Neuland. Um ein anspruchsvolles KI- Modell entwickeln zu können, braucht es zudem das Know-how unterschiedlicher Disziplinen. Ressourcen müssen gebündelt werden und ein neues Selbstverständnis in den Unternehmen Einzug halten.

 

ERSTE SCHRITTE ZU ZUKUNFTSWEISENDEN KOLLABORATIONEN

Für KMU ist die digitale Transformation und Implementierung neuer Methoden eine Herkulesaufgabe. „KMU stehen bei dem Thema Digitalisierung häufig vor einem Berg von Herausforderungen und sie haben im Prinzip alle ähnlichen Probleme“, bringt Hendrik Hustert die aktuelle Situation auf den Punkt. Der Geschäftsführer der ORONTEC GmbH und Co. KG, die Unternehmen der Lack- und Beschichtungsindustrie unter anderem in den Bereichen Digitalisierung und Prozessoptimierung berät, ist sich sicher, dass die anstehenden Aufgaben nicht mehr im Unternehmen allein gelöst werden können. Und ohne interdisziplinäre Zusammenarbeit gehe es bei KI-Projekten ebenfalls nicht. Mit der Smart Paint Factory Alliance, an der auch ORONTEC beteiligt ist, gibt es beispielsweise eine Initiative mit dem Ziel, die Digitalisierung in der Lackbranche voranzutreiben, um die Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten. Unternehmen können sich dort an der Gestaltung der digitalen Zukunft in Form der Schaffung einer Datenplattform über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg beteiligen, die allen Beteiligten nachhaltigen Mehrwert bringen soll. Dabei geht es nicht darum, Rezepturen offenzulegen, sondern allgemeines Wissen beispielsweise über Rohstoffe, Produkte und Lieferanten zu teilen und die so entstehenden Synergien sinnvoll zu nutzen.

„Viele Unternehmen, insbesondere KMU, scheuen die Investitionen in entsprechende Technologien“, erläutert Quix. „Das liegt nicht nur an den Kosten, sondern auch daran, dass notwendige Kompetenzen bei Datenanalyse und Anlagensteuerung in vielen Unternehmen häufig nicht ausreichend vorhanden sind.“ Deshalb haben die Experten des HIT-Instituts das Projekt I2DACH entwickelt und damit eine Basis geschaffen, mit dessen Hilfe vor allem KMU ihre Produkte kontinuierlich an neue Anforderungen und gesetzliche Regelungen anpassen können. Es ziele darauf ab, standardisierte Verfahren zur Formulierung, Applikation und Charakterisierung von Farben und Lacken zu entwickeln. Dabei ist die Hochdurchsatzanlage aus dem Blickwinkel der Automation vor allem eine Quelle für das Generieren guter und sicherer Daten als Voraussetzung für die Entwicklung guter Modelle. Sie unterstützt und bringt Vorteile in der Produktentwicklung. Was auf konventionellem Wege im Unternehmen Hunderte oder gar Tausende Experimente erfordert, gelingt nun mit KI, Machine Learning und Nutzung der Hochdurchsatzanlage mit weniger Proben und in kürzerer Zeit. So kann es sein, dass man schon nach 50 Versuchen ein Prototyp und mit wenigen Optimierungen ein markttaugliches Produkt hat. Das verkürzt die Entwicklungszeit für neue Farben und Lacke erheblich. Gleich zeitig können mit einem gezielteren Vorgehen bei der Versuchsplanung chemische Rohstoffe eingespart werden.

„Wenn sie an unserer Hochdurch satz-Anlage stehen, können Kolleginnen und Kollegen aus den Unternehmen besser nachvollziehen, was KI bzw. Maschinelles Lernen in der Realität ausmacht“, erklärt Schmitz. „Sie können nachvollziehen, welche Möglichkeiten die Modellentwicklung bietet. Das ist wichtig, denn viele Branchenteilnehmer stehen den Entwicklungen immer noch skeptisch gegenüber. In vielen Unter nehmen heißt es: Lack ist Handwerk, Lack wird von Menschen gemacht.“ Dass es auch anders geht, und vor allem offenbar besser und schneller funktioniert, kann die Ungläubigkeit nehmen und die Bereitschaft erhöhen, sich intensiver mit dieser Thematik auseinanderzusetzen.“

SILO-DENKEN AUFBRECHEN

Im Rahmen des I2DACH-Projekts arbeiten am HIT Institut Lackchemiker, Informatiker sowie Spezialisten für Umwelttechnik, Sensorik, Mikrotechnik und Automatisierungstechnik zusammen. „Das gemeinsame Arbeiten an so einem Projekt erfordert von allen Beteiligten einen hohen Lernaufwand“, erklärt Göttert. „Schließlich müssen sich hier verschiedene Ingenieursdisziplinen auf ein gemeinsames Projektziel verständigen und dieses möglichst effizient erreichen.“

Auch innerhalb von Unternehmen ist mindestens abteilungsübergreifende Zusammenarbeit notwendig, um die Digitalisierung voranzutreiben. Es stellt sich sogar die Frage, inwieweit Unternehmen lernen müssen, Allianzen mit Wettbewerbern einzugehen, um gemeinsam als Industrie im weltweiten Wettbewerb zu bestehen. So sieht Hustert in der althergebrachten Abschottung gegenüber Konkurrenten eine große Gefahr für die Wettbewerbsfähigkeit gerade von KMU, die zu Konzentrationsbewegungen auf dem Markt führen kann. „Um qualitativ hochwertige Daten zu erhalten, ist es notwendig, das Silo-Denken aufzubrechen und über Unternehmensgrenzen hinweg zu schauen“, bilanziert er. „Nur so kann ein Regelkreis entstehen, der bei allen Beteiligten in der Lackindustrie langfristig zu mehr Effizienz und Produktivität führt.“

Mit seinem Open Innovation Hub HIT bietet das HIT-Institut der Hochschule Niederrhein eine Möglichkeit, um KMU, große Unternehmen und Hochschulforschung zusammenzubringen. Zudem gibt es mit der Smart Paint Factory Alliance eine Initiative mit dem Ziel, die Digitalisierung in der Lackbranche voranzutreiben, um die Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten. Unternehmen können sich dort an der Gestaltung der digitalen Zukunft in Form der Schaffung einer Datenplattform über die gesamte Wertschöpfungskette hin weg beteiligen, die allen Beteiligten nachhaltigen Mehrwert bringen soll. Dabei gehe es nicht darum, Rezepturen offenzulegen, sondern allgemeines Wissen beispielsweise über Rohstoffe, Produkte und Lieferanten zu teilen und die so entstehenden Synergien sinnvoll zu nutzen, so die Wissenschaftler.

NACHHALTIGKEIT MIT HILFE VON KI WEITERDENKEN

„Rezepturen für Farben und Lacke haben sich über Jahre, oft Jahrzehnte hinweg entwickelt“, erklärt Schmitz. „Am Ende besteht so eine Beschichtung mitunter aus 15 bis 20 verschiedenen Komponenten. Welchen Beitrag jeder einzelne Stoff leistet, ist nicht für alle Fälle aufzuklären und sollte ständig hinterfragt werden. Das ist nachhaltiger und spart Aufwand und Kosten.“ Doch die Experten am HIT-Institut haben unter dem Stichwort Chemie 4.0 noch größere Visionen. „Wenn wir mit Hilfe von KI wirklich tiefe Kenntnisse über jedes einzelne Molekül und sein Bindungsverhalten generieren können, dann wären wir einen großen Schritt weiter auf dem Weg zu einer wahrhaft nachhaltigen Industrie und einer innovativen Produktentwicklung, die unser jetziges Vorstellungsvermögen übersteigen dürfte“, so die Experten des I2DACH-Projekts. Dann wäre es vielleicht sogar möglich, einen geschlossenen Kreislauf zu schaffen, bei dem bereits bei der Produktentwicklung darüber nachgedacht wird, welche Pigmente oder Rohstoffe recycliert und anschließend für neue Produkte verwendet werden können. Doch das ist noch Zukunftsmusik. Ein Prozess, der möglicherweise Jahrzehnte beanspruchen wird.

Fest steht, dass der Wandel von der „alten“ fossilen Chemie hin zu einer nach haltigen „grünen“ Chemie ohne eine Mischung aus KI-Methode, entsprechen den Anlagen und tiefer Expertise nicht möglich sein wird. Das heißt aber auch: Lackingenieure, Lacklaboranten sowie alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Labors müssen in Zukunft Programmieren lernen, um mit diesen Modellen professionell arbeiten zu können. Denn eines zeichnet sich bereits jetzt ab: KI wird als Werk zeug in Zukunft ganz selbstverständlich zum Unternehmensalltag auch in der Lack- und Druckfarbenindustrie gehören.

 

An der Hochschule Niederrhein mit dem Forschungsschwerpunkt Funktionale Oberfläche sind das Institut für Lacke und Oberflächenchemie (ILOC) sowie das HIT-Institut für Oberflächentechnologie beheimatet. Neben anwendungsorientierter Forschung und Lehre steht der Technologietransfer und das zur Verfügungsstellen von Infrastruktur im Mittel punkt ihrer Aufgaben. Zudem werden dort seit 100 Jahren Lackingenieure ausgebildet.

Das HIT-Institut für Oberflächentechnologie bündelt die Kompetenzen der Hochschule Niederrhein im Bereich der Oberflächentechnologien. Mit der Kombination aus chemischem Fachwissen, maschinellem Lernen und Datenmanagement bietet das HIT-Institut ein OPEN LAB SPACE für KMU und große Unternehmen der Region, die im Rahmen von Forschungsprojekten in der Produktentwicklung unterstützt werden.