Der Einstufungskrimi Titandioxid nähert sich seinem vorläufigen Ende. Wie kaum ein Fall zuvor hat das Verfahren die Schwächen des europäischen Entscheidungsprozesses im Rahmen der Chemikalienregulierung offen gelegt: Angefangen von der politisch motivierten Initiative Frankreichs über die einseitige Bewertung des Vorschlags durch den ECHA-Ausschuss, die Verweigerung einer selbständigen Entscheidung durch die Arbeitsebene der Kommission, die Ignoranz ihrer Entscheider in Bezug auf Auswirkungen und Rechtmäßigkeit des Vorschlags sowie nun der verkrampfte Widerstand gegen die Mehrheit der Mitgliedstaaten. Die Kommission muss sich fragen lassen, welchen Wert solche Anhörungen haben, wenn Kommissionsvertreter schon vorab in der Presse verkünden, die Einstufung auf jeden Fall durchzuziehen – unabhängig vom Ausgang der Anhörung.
Wenn man sich schon nicht in Verfahrensfragen einig wird, bedeutet das nichts Gutes für die inhaltliche Diskussion. Und so kam es auch. Der Kritik aus den Mitgliedstaaten begegnete die Kommission mit der berüchtigten „Drei-Satz“-Verteidigung aus dem Handbuch für Bürokraten: „Das haben wir noch nie so gemacht! Wo kommen wir denn da hin? Da könnte ja jeder kommen!“ Die Forderung nach einer Folgenabschätzung wich die Kommission mit einer pseudo-juristischen Finte aus: Eine Einstufung als Gefahrstoff könne niemals signifikante Auswirkungen haben, weil diese Auswirkungen ja nicht unmittelbar durch die CLP-Verordnung, sondern durch die Spezialgesetze, die auf die Einstufung verweisen, ausgelöst werden.
Es bleibt zu hoffen, dass die europäischen Gerichte bei einer Überprüfung der Einstufung solchen Winkelzügen einen Riegel vorschieben und die Kommission daran erinnern, dass sie eine eigenständigen Ermessensspielraum hat und diesen auch nutzen muss. Außerdem kann die neue Kommission unter Ursula von der Leyen zeigen, dass sie bereit ist, die Versprechen der „Besseren Rechtsetzung“ in der Praxis umzusetzen.
- Dr. Martin Engelmann