Michael Vassiliadis, Vorsitzender der IG BCE, unterstützt den europäischen Green Deal, verlangt aber gleichzeitig Garantien für die betroffenen Industrien und gut bezahlte Arbeitsplätze.
WSF: Die Chemikalienstrategie für Nachhaltigkeit ist für die Lack- und Druckfarbenindustrie einer der wichtigsten Aspekte des Green Deals. Was sind ein Jahr nach Veröffentlichung aus Ihrer Sicht die größten Herausforderungen dieser EU-Strategie?
MV: Chemikalien sicherer und nachhaltiger zu machen, wie es die Strategie vorsieht, ist unbedingt notwendig und gleichzeitig eine große wirtschaftliche Chance. Wichtig ist: Sie muss die Chemieindustrie stärken und ebenso ermöglichen, die Ziele des Green Deals zu erreichen. Die Chemikalienstrategie sollte die Schlüsselrolle der chemischen Industrie als Wegbereiterin des grünen und digitalen Wandels anerkennen und stärken. Denn die Branche und ihre Beschäftigten tragen aktiv zum Ziel bei, in der EU bis 2050 treibhausgasneutral zu sein. Sie liefert Produkte und Lösungen für eine umweltschonende und klimagerechte Zukunft.
Die Chemikalienstrategie würde in der jetzigen Form weitreichende Folgen haben. Unter anderem sollen zahlreiche bestehende und bewährte Vorschriften angepasst und verschärft werden – und neue, aber undefinierte Begriffe eingeführt werden, wie zum Beispiel „sichere und nachhaltige“ Chemikalien oder „bedenkliche Stoffe“. All das betrifft Produkte der grünen Transformation wie Additive, Hochleistungskunststoffe oder E-Batterien. Hier muss schnell nachgearbeitet werden, hier sind schnell klare Definitionen und Kriterien notwendig, unter Achtung aller drei Dimensionen der Nachhaltigkeit: ökologisch, ökonomisch und sozial. Denn Innovation findet nicht nur – und schon gar nicht automatisch – statt, wenn strengere Vorschriften eingeführt werden, sondern unter günstigen Marktbedingungen.
WSF: Sie sind einer der wenigen deutschen Vertreter im sogenannten High-Level Roundtable der EU-Kommission zur Chemikalienstrategie. Welche Erfahrungen konnten Sie bereits sammeln, und welche Hoffnungen verbinden Sie mit diesem Format?
MV: Die IG BCE unterstützt die Ziele des Green Deals. Dieser muss aber zugleich garantieren, dass gute und fair bezahlte Arbeitsplätze in der Industrie erhalten oder neu geschaffen werden. Denn die Maßnahmen werden in ganz erheblichem Umfang Auswirkungen auf ganze Geschäftsbereiche, auf unsere Form des Wirtschaftens und damit auch auf Beschäftigung in unseren Branchen haben.
Hierbei sind die sektoralen Auswirkungen der EU-Zielvorgaben immer noch viel zu ungenau und lassen die soziale Frage der Transformation offen. Der European Green Deal muss zum Treiber des sozial-ökologischen Umbaus in Europa und global werden. Wir werden uns gemeinsam mit IndustriAll dafür einsetzen, dass aus den abgeleiteten Maßnahmen jetzt auch klare Wachstumspfade, weniger Risiken und mehr gestaltbare Chancen werden.
WSF: Viele unserer Mitglieder fürchten, dass der Green Deal in erster Linie Belastungen mit sich bringt, andere verweisen auf Chancen. Was überwiegt aus Ihrer Sicht? Wie wirktsich der durch die Corona-Pandemie notwendig gewordene wirtschaftliche Wiederaufbau auf den Green Deal aus?
MV: Wir als IG BCE wollen den Transformationsprozess positiv mitgestalten, der Green Deal ist in erster Linie eine Chance. Aber wir haben auch Fragen, sehen unklare Gestaltungswege und erwarten soziale Ausgestaltung. Denn eines ist sicher: Die ökologische Transformation wird nicht einfach sein. Die europäische Ebene stellt immer höhere Anforderungen. Die Politik lässt aber vielfach Konkretes vermissen, wie die Ziele zur Klimaneutralität und Dekarbonisierung erreicht werden sollen. Vor allem die energieintensiven Branchen wie die Chemieindustrie stehen unter immensem Druck. Durch die Notwendigkeit des wirtschaftlichen Wiederaufbaus wird dieser noch erhöht.
WSF: Der Green Deal betrifft alle Sektoren der chemischen Industrie und stellt alle Akteure vor große Herausforderungen. Wie geht die IG BCE dieses Thema an?
MV: Der runde Tisch soll den Kommunikations- und Informationsaustausch fördern und dazu beitragen, dass die Strategie für den sicheren und nachhaltigen Umgang mit Chemikalien effektiv und effizient umgesetzt wird. Ich erhoffe mir, dass er einen konstruktiven und vor allem ergebnisoffenen Dialog mit Industriebeteiligung ermöglicht, bevor konkrete Vorschläge zur Änderung von Vorschriften gemacht werden, wie es mit der Einführung neuer Begriffe geschehen ist. In Folgenabschätzungen muss zunächst geprüft werden, wie sich Vorschläge für zukünftige Vorschriften auswirken und welche sozioökonomischen Aspekte zu berücksichtigen sind.
WSF: Abgesehen von der Chemikalienstrategie, wie positioniert sich die IG BCE zum Gesamtpaket Green Deal?
MV: Die Transformation der Industrie werden wir in den kommenden Jahrzehnten nur mit einem gesamtgesellschaftlichen Kraftakt erfolgreich gestalten können. Deshalb müssen Politik, Wirtschaft und Gewerkschaft in der chemisch-pharmazeutischen Industrie vormachen, wie ein enger Schulterschluss aussehen kann. Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern für Europa. Hier müssen wir gemeinsam eine Sprache sprechen: zur EU-Chemikalienstrategie, Energie- und Klimapolitik sowie zur Stärkung des kontinentalen Pharmanetzwerks – damit wir den Green Deal auch sozial und wirtschaftlich nachhaltig machen und europäische Wertschöpfungsketten sichern. Jetzt gilt es, den Wandel voranzutreiben und die Branche als Garant für Wohlstand und gute Arbeit weiterzuentwickeln.
WSF: Die chemische Industrie ist sehr divers. Die Lack- und Druckfarbenindustrie macht da keine Ausnahme. Wie schätzen Sie die Auswirkungen des Green Deals für unsere mittelständisch geprägte Anwenderindustrie ein?
MV: Nur wenn wir die Branche in eine nachhaltige Zukunft führen und die Produktionsmodelle klimagerecht erneuern, haben die Beschäftigten und die Betriebe der chemischen Industrie eine gute und sichere Zukunftsperspektive. Das gilt für große Konzerne ebenso wie für mittelständische Unter- nehmen. Wir fordern daher mehr Schutz für die Beschäftigten in den Industrien, die vom Wandel direkt oder indirekt betroffen sind. Es muss außerdem diskutiert werden, wie der Schutz vor Abwanderung von energieintensiven Unternehmen gewährleistet wird, damit der heimische Standort zukunftsfähig und erfolgreich auf dem Weltmarkt bleibt.
WSF: Der mit dem Green Deal angestrebte Wandel setzt neue Denk- und Handlungsweisen voraus. Welche politischen Rahmenbedingungen braucht unsere Industrie, um diese Transformation zu meistern, ohne dabei Arbeitsplätze aufs Spiel zu setzen?
MV: Um die Transformation zu meistern und gleichzeitig Beschäftigung zu sichern, muss vor allem das Risiko von Carbon Leakage gelöst werden, also die drohende Abwanderung von Unternehmen aufgrund von hohen oder teuren Klimaauflagen in Länder außerhalb der EU, in denen die Emissionsauflagen geringer sind. Dieser Carbon-Leakage- Schutz könnte zum Beispiel mit Hilfe eines globalen Index zu Energie- und CO2-Kosten in wichtigen Wettbewerbsregionen organisiert werden. Das wäre die Grundlage, um die Differenzkosten für exportierende Unternehmen mit Blick auf die europäischen Energie- und CO2-Kosten zurückzuerstatten.
Die Fragen stellte Lucas Schmidt-Weihrich.